Urbanisierungsprozesse und Nahrungsversorgung

Cedric Janowicz

Problemhintergrund des soziologischen Teilprojekts ist die anhaltende Diskussion um den Zusammenhang zwischen demographischen Wachstumsprozessen in ‚Entwicklungsländern’ und der Nahrungsversorgung. In der Diskussion um den Zusammenhang von demographischer Entwicklung und Nahrungsversorgung spielt das Phänomen einer weltweiten Urbanisierung eine immer bedeutendere Rolle. Der Beginn des 21. Jahrhunderts wird von einer tief greifenden sozialräumlichen Reorganisation der Weltbevölkerung begleitet. Urbanisierung ist einer der zentralen gesellschaftlichen Prozesse der letzten hundertfünfzig Jahre und weltweit ist ein anhaltender Trend zur Verstädterung beobachtbar. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt wächst die Bevölkerung der Städte um mehr als 60 Millionen pro Jahr und nach Prognosen der UNO wird im Jahre 2025 zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten bzw. urbanen Ballungsräumen leben. Vor allem Entwicklungsländer weisen - bei allen regionalen Unterschieden - eine historisch einzigartige Urbanisierungsrate auf.

Urbane Räume spielen im Rahmen der Nahrungsversorgung der Bevölkerung seit jeher eine entscheidende Rolle: Zum einen sie sind der Ort, an dem nahezu alle Arten von Nahrungserzeugnissen und Lebensmittelressourcen räumlich gebündelt werden, so dass Städte eine zentrale Rolle bei der administrativen Koordinierung der Produktion und der Verteilung aller Arten von Nahrungserzeugnissen spielen. Zum anderen verbrauchen sie selbst ein hohes Maß an Nahrungsmittelerzeugnissen. Die mit Urbanisierungsprozessen verbundenen massiven Land-Stadt-Wanderungen bewirken weiterhin Strukturschwächungen und Versorgungsprobleme sowohl der Städte als auch der ländlichen Regionen: Durch Wegfall der leistungsfähigsten Arbeitskräfte wird die landwirtschaftliche Produktivität vermindert, bis hin zur Gefährdung der Selbstversorgung. Hinzu kommt, dass agrarisch geprägte Versorgungsstrukturen, wie sie in weiten Teilen südlicher Regionen zu finden sind, wegen der notwendigen Lokalkenntnisse für erfolgreichen Anbau aber auch auf Grund der meist komplexen Eigentumsregelungen der Produktionsmittel zumeist eine relativ sesshafte Bevölkerung erfordern.

Vor dem Hintergrund demographischer Veränderungsprozesse in Entwicklungsregionen soll präzisiert werden, in welchem Verhältnis Urbanisierungsprozesse und Nahrungsversorgung stehen. Insgesamt gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse über diesen Zusammenhang. Zumeist bewegen sich die einschlägigen Studien auf einer rein deskriptiven Ebene und argumentieren, dass bereits die bloße Veränderung der sozial-räumlichen Verteilungsstruktur der Bevölkerung (Größe und Dichte) schwer wiegende Folgen in Forme von Nahrungsmittelknappheiten für die städtische Nahrungsversorgung implizieren.

Als Untersuchungsregion wurde die Stadt Accra in Ghana ausgewählt. Die Region um Accra wurde aus mehreren Gründen ausgewählt: Auch wenn Ghana im Vergleich zu dem gesamten afrikanischen Kontinent eher durchschnittliche demographische Wachstums- und Urbanisierungsraten aufweist, so handelt es sich bei Accra dennoch um eine der dynamischsten Regionen Westafrikas: Lag die durchschnittliche Urbanisierungsquote 1930 noch bei 6%, liegt sie heute bei ca. 40% . Die Untersuchungsregion Accra hat sich mit einer Einwohnerzahl von ca. 1,8 Millionen in den letzten zwanzig Jahren mehr als verdoppelt. Gleichzeitig wuchs die Stadtfläche um unglaubliche 318%. Accra kämpft mit den ‚typischen’ Problemen rasch gewachsener Agglomerationsräume in Entwicklungsregionen (hohe Arbeitslosigkeit, Nahrungsmittelengpässen, Vernichtung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen durch rasches städtisches Wachstum etc.) und ist daher in besonderer Weise geeignet, die komplexen sozial-ökologischen Zusammenhänge zwischen Urbanisierungsprozessen und Nahrungsversorgung empirisch zu präzisieren.

Ein erster Feldaufenthalt im Oktober 2005 bestätigte eine der zentralen Hypothesen sowohl des Gesamt- als auch des soziologischen Teilprojekts: die Ursachen für die offensichtlichen Probleme der Nahrungsversorgung liegen nicht primär im Bevölkerungswachstum und dem damit gestiegenen Bedarf als solchen, sondern vor allem in einem historisch gewachsenen ‚Regulationsregime’, welches spezifische Wechselwirkung zwischen sozialen und ökologischen Dynamiken etabliert hat, die allerdings durch demographische Wachstumsprozesse verschärft werden. So wird beispielsweise eine erfolgreiche Regulierung des Versorgungssystems am wichtigen Knotenpunkt ‚urbane Landwirtschaft’ im Kern von einem kolonial initiierten Rechtpluralismus und einer damit verbundenen nicht-nachhaltigen, lokalen Nutzung der Ressource ‚Boden’ bedroht.

Für die nächsten Monate steht vor dem Hintergrund dieser ersten empirischen Erkenntnisse vor allem eine verstärkte entwicklungstheoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Raum(nutzung) und städtische Versorgungssysteme an, die gleichsam als wichtige inhaltliche Vorbereitung für einen weiteren Feldaufenthalt im August 2006 dient.

Stand: April 2006